Vorwort
Es gab Zeiten, in denen es nur wenige gute Schachlehrbücher gab, womit nicht
Turnierbücher, spezielle Eröffnungs- oder Endspielwerke und Meisterbiografien
gemeint sind, sondern allgemeine Lehrbücher, die auch dem Novizen einen leichten,
aber nicht zu oberflächlichen Einstieg in das königliche Spiel ermöglichen
sollten. Neben einfachen Einsteigerbüchern sind insbesondere die klassischen
Werke von Tarrasch und Lasker zu nennen.
Im 19. Jahrhundert und davor lag das Augenmerk hochrangiger Spieler
überwiegend auf dem Streben nach materiellem Vorteil durch taktische Mittel und
scharfe Angriffe, dennoch gab es auch schon sehr früh Meister mit einem
tieferen Verständnis des Schachspiels, bereits Philidor wies darauf hin, dass
die Bauern die Seele des Spiels sind. Ende des 19. und Anfang des 20.
Jahrhunderts haben Steinitz, Lasker, Tarrasch und andere die Grundlagen des
positionellen Spiels ausgearbeitet. Noch zu Wirkungszeiten dieser und anderer älterer
Schachmeister wurden deren wohlbegründete eiserne Grundsätze mit dem Beginn des
20. Jahrhunderts von jüngeren Spielern hinterfragt und Wege zu einem moderneren
und allgemeineren Schachverständnis gesucht und gefunden. In der Mitte des 20.
Jahrhunderts gewannen dann positionelle und strategische Aspekte eine immer
größere Bedeutung, und die Taktik schien nur noch eine untergeordnete Rolle zu spielen.
Das änderte sich jedoch zum Ende des letzten Jahrhunderts mit dem
Heraufkommen von Schachprogrammen und Schachcomputern, deren positionelle
Fähigkeiten zunächst schwach und deren strategisches Vermögen so gut wie gar nicht
vorhanden waren, ihr taktisches Spiel wurde jedoch sehr schnell überaus stark. Das
betrifft nur die Eigenschaften der eigentlichen Schachalgorithmen und nicht
deren Unterstützung durch riesige Eröffnungs‑, Endspiel- und Partiedatenbanken.
Die schließlich erreichte enorme taktische Stärke der Computer beeinflusste die
menschlichen Spieler insofern, als sie der Schachtaktik wieder ein größeres
Gewicht beimaßen. Gelegentlich konnte man den Eindruck gewinnen, dass die
positionellen und strategischen Elemente des Schachspiels teilweise zu
vernachlässigen begonnen wurden.
Das alles hat sich selbstverständlich auch auf die Art und Weise ausgewirkt,
wie man heute Schach lehren sollte. Laszlo Mihok hat sich überdies nicht zum
Ziel gesetzt, ein Lehrbuch nur für Einsteiger oder nur für angehende
Meisterspieler zu schreiben, sondern eines, dass einem großen Spielerkreis vom
fortgeschrittenen Anfänger bis zum Meisteranwärter von Nutzen ist. Deshalb
steht in diesem Buch auch ein bisher weniger intensiv beackertes Feld im
Vordergrund, nämlich das der Dynamik, insbesondere der Bauerndynamik. Demgemäß liegt
die Betonung darauf, wie die dynamische Führung der Bauern den Partieverlauf
beeinflusst und wie diese mit den übrigen Steinen zusammenwirken.
Es geht ihm jedoch nicht nur um die Wahrheit auf dem Schachbrett, wie sie
einst Tarrasch suchte, sondern auch um den Einfluss der Situation des
jeweiligen Spielers, wozu der gesamte physische und psychische Zustand eines
Spielers zu rechnen ist, inklusive Motivation, Kampfeswille, Charakter,
Erschöpfungsgrad, Gesundheitszustand, Turniersituation etc. Da denkt man an
Lasker, der die individuellen psychischen Faktoren der Spieler und ihren
Einfluss in seine Überlegungen einbezog.
Im sehr gemischten Material des Buches findet man nicht nur nützliche
schachbezogene Gesichtspunkte über Positionsspiel und Strategie, die Balance von
Material, Zeit und Raum, Angriff und Verteidigung, sondern auch, was in
kritischen Situationen zu tun ist, nämlich die Stellung einzuschätzen und aus
deren Merkmalen, also Stärken und Schwächen, einen Plan für den Angriff, die
Verteidigung oder einen Gegenangriff abzuleiten oder die Transformation in
einen vorteilhafteren Stellungstyp anzustreben. Schon Euwe empfahl diese Vorgehensweise.
Laszlo Mihok hat all diese Elemente in einer modernen Sichtweise
zusammengefasst und bietet sie anhand vieler klassischer und neuerer Beispiele
dar.
In den einzelnen Kapiteln werden viele kritische Stellungen gezeigt, und
wie man sie vorteilhaft behandelt. Es gibt jedoch auch zahlreiche Beispiele, in
denen der komplette Partieverlauf ohne weitere Kommentare bis zu dem Punkt angegeben
wird, an dem die entscheidende Position erreicht wird, um von dort an die beste
Vorgehensweise aufzuzeigen. In diesen Fällen würde die eingehende Kommentierung
der Gesamtpartie vom eigentlichen Thema ablenken und zudem den Rahmen des
Buches sprengen, für wissbegierige Spieler ist die dennoch gezeigte Vorgeschichte
der fraglichen Stellung aber doch nicht uninteressant.
Wer die Mühe des konsequenten Durcharbeitens dieses Werkes auf sich nimmt,
wird auf vieles stoßen, das ihm in dieser Form noch nicht begegnet ist. Er wird
nicht nur neue schachbezogene Ratschläge zur Partieführung entdecken, sondern
auch Hinweise auf den Einfluss der Gesamtsituation eines Spielers auf dessen
Verhalten.
Hans-Peter Ketterling
Berlin, im Juli 2022
Laszlo Mihok ist Diplomingenieur, FIDE-Meister, FIDE-Trainer und Schachbuchautor. Er wurde 1954 in Ungarn geboren und lebte und arbeitete 20 Jahre in Deutschland. Dieses ist sein viertes Schachbuch, das bekannteste ist das Kombinationsbuch „Pawndynamics“.Seit 1976 unterrichtet er Schach, eine Tätigkeit, die ihn schon immer gereizt hat.Als Trainer des Deutschen Schachbundes nahm er an sechs Jugendwelt- und Europameisterschaften teil. Er unterrichtete einige außergewöhnlich talentierte und inzwischen weltbekannte Schachspieler, darunter die junge WGM Ildiko Madl und GM Adam Kozak.In den 1980er Jahren trainierte er WGM Sofia Polgar und war GM Susan Polgars Trainingspartner.Seit dem fünften Lebensjahr seines Sohnes GM Oliver Mihok, der deutscher U8- und ungarischer U12- sowie U12-EU-Meister und Vizemeister bei der U16-Mannschafts-WM wurde, ist er dessen Trainer.In der letzten Zeit ist er als Trainer in Süddeutschland und im Alpenraum tätig, besonders in Württemberg, seine Schüler haben insgesamt mehr als zehn Landesmeistertitel erworben. (Cover)